Untersuchungen zur Rolle des Kleinhirns bei Sprachprozessen

 

1.2. Neue Auffassungen zu Kleinhirnfunktionen

 

Meine erste Begegnung mit Kleinhirnfunktionen - außerhalb der bekannten Erkenntnisse bezüglich der motorischen Steuerung - machte ich bereits vor einem Vierteljahrhundert: Restak, seinerzeit Dozent für Neurologie an der Georgetown University, versuchte in seinem Buch „Geist, Gehirn und Psyche – Psychobiologie: die letzte Herausforderung“ (1981), wesentliche Resultate auf dem Stand der damaligen Forschung einem breiteren (nicht fachlichen) Publikum zugänglich zu machen, das auch mit größtem Interesse von vielen gelesen wurde. Dort wird - auf der Basis der bekannten Untersuchungen von Harlow & Prescott (und auch Heath) mit Pongiden der Frage bezüglich der Deprivation sozialer Kontakte nachgegangen. Vor allem Prescott wagte sich weit nach vorne - er übertrug seine Erkenntnisse auch auf Kleinkinder und ihre Erziehung und meint (zu Recht), dass mit Schaukelbewegungen bei Kindern im Kleinhirn Impulse ausgelöst werden, die als lustvoll erlebt werden. Das Gleiche gälte für Erwachsene (Tanzen etc.).

 

„Das Kleinhirn ist geradezu ein Erklärungsmodell für die Auswirkun­gen der sozialen Isolation“, sagt Prescott. „Möglicherweise sind die Schaukelbewegungen von in der Isolation aufgezogenen Affen und von in Anstalten aufgewachsenen Kindern die Folge eines unzureichenden körperlichen Kontakts und mangelnder Bewegung. Damit empfangen sowohl die Bewegungsrezeptoren wie auch deren Projektionen auf ande­re Hirnstrukturen nicht genügend sensorische Stimulation, um sich nor­mal entwickeln und funktionieren zu können" (Restak, 1981, S. 130).

 

Ein Hinweis darauf, dass das Kleinhirn außer bei der Bewegung auch beim emotionalen Verhalten eine Rolle spielt, ergab sich bei elektrischen Stimulationen bei Ratten: Man kann bei normal aufgewachsenen Ratten, also solchen, die keine soziale Deprivation erlebten (wie die isoliert aufgezogenen) durch elektrische Kleinhirnstimulation ein ähnliches Verhalten auslösen: Sie laufen stereotyp im Kreis und versuchen, zwanghaft um sich zu beißen.

 

Daraus schloss Prescott, dass auch das Kleinhirn an einem komplexen emotionalen Verhalten beteiligt sei. Die generellen Schlussfolgerungen: Es besteht Grund zur Annahme, dass das Kleinhirn mit emotionellen Kontrollzentren (limbisches System, Hypothalamus) in Zusammenhang steht; die fehlende Stimulation des Kleinhirns führt zu emotionellen Störungen.

 

Prescott bat Heath (berüchtigt wegen seiner gewagten Experimente: Einpflanzung von Elektroden bei Menschen zur kontinuierlichen Registrierung von Aktivierungen tief im Gehirn) um Hilfe. Heath konnte nachweisen, dass die für die Emotionen verantwortlichen limbischen Zonen mit dem Kleinhirn in Verbindung stehen! Außerdem konnten auch Verbindungen zwischen Zentren im Kleinhirn und den Lust- und Unlust-Zonen (Septum, vorderer und hinterer Hypothalamus) nachgewiesen werden.

 

Stünden diese Befunde für sich allein, dann könnten Zweifel bezüglich Ihrer Validität aufkommen, wenn man bedenkt, dass das Kleinhirn als eine Struktur verstanden worden ist, die nur der Motorik dient, eine Ansicht, die auch noch heute das Bild des Kleinhirns in vielen Lehrbüchern bestimmt. Dass diese Sicht kaum richtig sein kann, machen aber bereits einige elementare entwicklungsbiologische und anatomische Fakten deutlich, die zeigten, dass auch das Kleinhirn mit weiten Teilen des Kortex verbunden ist, keineswegs nur mit denen, die nur - wie der primäre motorische Kortex - der Motorik dienen:  Etwa 90 % aller Afferenzen des Kleinhirns entspringen der Großhirnrinde; diese Erregungen erreichen unter Vermittlung der Brückenkerne das Kleinhirn. (Thier, S. 536/537, aus Karnath & Thier, 2003). Die Rückprojektion in den Kortex erfolgt via tiefer Kleinhirnkerne (N. dentatus, N. interpositas - s. die Seite 6 dieser Schrift) über den Thalamus (ventromediale und laterale Kerne): Großhirn und Kleinhirn scheinen über geschlossene Schleifen miteinander verbunden zu sein (cerebrocerebelläres Kommunikationssystem).

 

Thier beschäftigt sich vor allem mit der visuellen Wahrnehmung und Sehschärfe und referiert eine Reihe von Experimenten. Zusammenfassend werden folgende Erkenntnisse vorgestellt: Beobachtungen an Patienten mit Kleinhirnerkrankungen sprechen dafür, dass das Kleinhirn auch unabhängig von seinem Beitrag zur Optimierung der Motorik zur visuellen (auch räumlichen) und akustischen Wahrnehmung beiträgt: Bei Wahrnehmungen treten z.B. Fehler auf, wenn die Probanden angeben sollen, ob ein bewegtes Bild auftaucht, wie schnell es sich bewegt oder in welche Richtung es wandert.

Schädigungen des Cerebellums schränken auch die räumliche Wahrnehmung ein: Die Probanden brauchen zum Beispiel länger, um zu erkennen, ob zwei Bilder das gleiche Objekt aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen. Sie irren sich dabei öfters (aus Bower & Parsons, 2003, ohne Quellenangabe). Irvy & Kelly, 1989 (aus Bower & Parsons, 2003) erkannten, dass Menschen mit Kleinhirnverletzungen weder die Dauer eines vorgespielten Tones noch die Länge einer Pause zwischen zwei Tönen einigermaßen korrekt abschätzen können.

 

Thier zieht folgende Schlussfolgerungen: Die einheitliche Struktur des Kleinhirnkortex legt nahe, dass die Kleinhirnrinde ein einheitliches und bislang unbekanntes funktionales Prinzip anbietet, das den unterschiedlichen Großhirnarealen zur Verfügung gestellt wird.

 

Daum & Zoppelt, 2003, und andere Autoren beschäftigten sich mit exekutiven und mnestischen Funktionen des Kleinhirns.

 

 

 

 


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